Wem sie wirklich hilft und warum ich ungern damit arbeite
Jede_r Berater_in für intuitives Essen hat einen eigenen Stil. Unsere Arbeit und unsere Vorgehensweise wird geprägt durch unsere jeweiligen anderen Expertisen und Ausbildungen aber auch durch die eigene Erfahrung. In der Supervision, die für alle zertifizierten Berater_innen für intuitives Essen vorgeschrieben ist, habe ich dann das erste Mal darüber reflektiert warum ich in der Beratung die Skala selten benutze.
Aber first things first: Begriffsklärung! Was ist diese Skala überhaupt? Die Hunger- und Sättigungsskala ist eine Skala von 1 bis 10, wobei 1 für sehr hungrig, bzw. das was Elyse Resch und Evelyn Tribole “ravenous hunger” = auf deutsch in etwa ausgehungerter Hunger nennen, steht und 10 für übermäßig satt, wo dein Bauch unangenehm spannt, dir weh tut und dir vielleicht sogar schon etwas übel ist. Klar soweit? Ziel ist es nicht erst bei 1 anzufangen zu essen und nicht bei 10 oder 9 aufzuhören zu essen. Soweit total einleuchtend, oder?
Vielleicht liegt es daran, dass ich selbst eine lange Diät-Geschichte hinter mir habe und die Hunger- und Sättigungsskala durch Diäten das erste Mal kennengelernt habe, aber ich sage es hier mal ganz deutlich: Ich persönlich mag die Skala überhaupt nicht und ich bin nicht allein damit.
Wie hab ich die Skala kennengelernt? Als ich 5 Jahre lang Mitglied im größten Diät-Club der Welt mit zwei gleichen Buchstaben als Logo war, Hatte ich kein schönes Leben. Denn mein Leben wurde von Zahlen regiert. Im Supermarkt beim Einkaufen, auf der Personenwaage, der Küchenwaage, in meinem Punkte Tagebuch, in den Treffen, in Rezeptbüchern, als Konfektionsgröße und eben auch als Hunger- und Sättigungsskala! Überall sprangen mir Zahlen ins Gesicht. Zahlen, die ich immer im Auge behalten musste. Das war ziemlich anstrengend und hat mich beschäftigt gehalten. Ich erinnere mich noch gut daran wie ich meinen Tag begann: Aufstehen, auf Toilette gehen und danach sofort wiegen. Am besten noch vor dem Frühstück, damit die Zahl auf der Waage möglichst gering blieb. So war die Reihenfolge. Das Schlimme daran war, dass je nachdem was die Waage anzeigte, diese Zahl über den gesamten Verlauf meines Tages bestimmte. Entweder war es ein guter Tag oder ein schlechter Tag. Es gab nichts dazwischen. Ich nannte es schon damals scherzhaft “das Waage-Orakel”, konnte mich aber nicht von dem Wunsch, unbedingt die kleinere Konfektionsgröße zu “erreichen”, trennen. Im nachhinein schätze ich, dass gut zwei Drittel meines Tages für Zahlen drauf gingen.
Kommt dir bekannt vor, oder? Die meisten von uns haben eine ähnliche Geschichte der Tyrannei der Zahlen hinter uns. Für viele von uns macht es deshalb Sinn Zahlen so gut wie möglich aus unserem Leben zu streichen. Zumindest da wo es möglich ist. Keine Konfektionsgrößen mehr. Keine Personenwaage mehr und nicht mehr alles zählen und abwiegen. Aber nur weil nicht mehr so viele Zahlen im Alltag vorhanden sind heißt das noch lange nicht, dass du gelassener mit Essen und deinem Körper umgehst. Die Zahlen sind nur das Symptom. Das konstante Vergleichen, der Ankunftsfehler (➡️ s. Blogartikel “Neues Jahr, neues Ich = Noch mehr Stress) und das Streben nach Perfektionismus gehen davon nicht so einfach weg. Die Zahlen mögen zwar mit der Personenwaage aus deinem Badezimmer verschwunden sein aber das, was dahinter steht, spukt noch länger in deinem Kopf herum. Es zeigt sich auf ein Mal in anderen Bereichen deines Lebens ohne dass du es damit in Verbindung bringst. Viele Klient_innen erzählen mir, dass sie plötzlich auf der Arbeit 110% geben müssen oder in ihrer Freizeit z. B. durch übermäßiges, ehrenamtliches Engagement ihre Freund_innen nicht mehr so häufig sehen.
Wie bin ich von den allgegenwärtigen Zahlen los gekommen? Es war ein langer Weg und der war nicht einfach. Diäten genießen immer noch ein hohes Ansehen und der enorme Stress, den wir uns wegen der Zahlen machen, wird mitunter sogar als Tugend missverstanden! Erst als mir nach meiner Essstörung Abnehmen egal wurde und ich einfach nur wieder “normal” essen wollte, wurden mir auch die Zahlen tatsächlich egal. Warum? Weil ich meine Perspektive geändert habe. Erst zu dem Zeitpunkt war ich bereit eine Alternative zu Diäten zu suchen. Diese fand ich schließlich in intuitivem essen und Health at every Size.
Die Frage, die ich mir bei solchen Beratungs.-Hilfsmitteln wie Skalen, Tracker, Checklisten usw. als Coach stellen muss ist “Ist d. Klient_in so weit die Zahlen als neutrale Leitlinien zu betrachten? Oder neigt Klient_in zum Perfektionismus und die Zahlen könnten Klient_in wieder in ein angespanntes Essverhalten oder noch schlimmer gestörtes Essverhalten zurück bringen?”
Da sind wir auch schon mitten im Problem: Welcher Art von Klient_in nützen diese Skalen tatsächlich etwas? Es sind nur sehr wenige:
- Klient_innen, die schon seit Jahren keine Diät mehr machen und denen Zahlen wirklich schnuppe sind.
- Diejenigen, die keine lange Diät-Geschichte hinter sich haben, zu emotionalem Essen neigen und jetzt unvoreingenommen und neugierig herausfinden wollen wie das für sie persönlich mit Hunger und Sättigung eigentlich so funktioniert
- Klient_innen mit einer Vergangenheit von gestörtem Essverhalten oder einer Essstörung, die schon seit einer Weile in Therapie sind und bleiben und die – genau wie ich damals – Den Fokus haben wieder “normal” essen wollen.
Bei jedem dieser Kleint_innen Typen bedarf es einer engmaschigen Beratung um sicherzustellen, dass sie nicht in alte Muster zurückfallen. Ich möchte mich mal aus dem Fenster lehnen und behaupten: Die wenigsten Menschen sind was Ernährung angeht tatsächlich unvoreingenommen. Das ist auch gar nicht möglich in einer Gesellschaft, die und ständig sagt dass dünner = besser ist und noch dünner = noch besser sein muss. Wir leben in einer essgestörten Gesellschaft! Ohne eine qualifizierte Fachberatung durch eine Person, die die Konzepte von anti-Diät, Health at every Size und intuitive eating wirklich verstanden hat, bürgt die Skala das Potential für die Hunger- und Sättigungsdiät missbraucht zu werden.
Gibt es einen Weg Hunger und Sättigung zu entdecken, der nicht an Zahlen gebunden ist? Ja! Die bisher einzige App, die dafür entwickelt wurde heißt Peace with Food (aktuell nur auf Englisch verfügbar) Aber auch da stehe ich ein wenig kritisch gegenüber. Denn während eins sie benutzt, werden beim Essen “motivierende” Sprüche angezeigt. Einer davon ist “Essen ist ein Geschenk”. Ein an sich mehr oder minder neutraler Satz, oder? Im Kopf einer Person, die grade frisch aus der Diät kommt und evtl sogar orthorexische, anorektische oder bulimische Tendenzen hatte alles andere als harmlos. Denn Diätkultur bringt uns bei dass Essen nisht “einfach so” genossen werden kann. Das meine ich mit Skalen: sie sind wirklich nicht für Alle neutral! Je nachdem wie tief die Diätmentalität sitzt sind erstmal andere Dinge wichtig. Ja, Essen ist etwas Wunderbares, was Menschen seitdem es Menschen gibt zusammenbringt. Wir dürfen Essen feiern! Jeden Tag! Einfach so. Weil essen köstlich ist und uns am Leben hält. Punkt
Darum benutze ich die Skala wenn überhaupt nur in meinen Coachings und gebe sie nicht als Hausaufgabe auf und dann auch nur an Klient_innen von denen ich denke, dass sie sich nicht von den Zahlen einschüchtern lassen. Ich hoffe du konntest dir durch diesen Beitrag ein Bild davon machen wie ich arbeite und warum eine Beratung zu intuitivem Essen so wichtig für deinen individuellen Heilungsweg zu einem gelassenen Umgang mit dem essen und deinem Körper ist.
Vielen Dank für’s Lesen und fette Grüße,
Deine Dot
PS: Wenn du beim Lesen Lust auf ein Kennenlerngespräch bekommen hast oder vielleicht sogar tiefer in deine eigene Diät-Geschichte mit mir schauen möchtest, dann schaue HIER!
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